Ein Brandschutzgutachten ist kein lästiges Papier, das man nur wegen der Behörde ausfüllt. Es ist die entscheidende Sicherheitsprüfung, die dafür sorgt, dass in Ihrem Mehrfamilienhaus im Brandfall niemand stirbt - weil Fluchtwege blockiert sind, weil Wände nicht halten oder weil Rauch sich ungehindert durch die Treppenhäuser schiebt. In Deutschland ist es für fast alle Mehrfamilienhäuser Pflicht. Und wer das nicht versteht, macht einen fatalen Fehler.

Wann genau brauchen Sie ein Brandschutzgutachten?

Nicht jedes Haus braucht es. Aber fast jedes Mehrfamilienhaus schon. Die Regel ist einfach: Wenn Ihr Gebäude mehr als zwei Wohneinheiten hat und mindestens drei Geschosse hoch ist, dann liegt es in der Gebäudeklasse 4 (GKL 4). Und dafür ist ein Brandschutzgutachten von einem staatlich anerkannten Sachverständigen gesetzlich vorgeschrieben - das gilt in allen 16 Bundesländern seit der letzten Novelle der Musterbauordnung im Jahr 2020.

Was ist mit älteren Gebäuden? Auch die. Wenn Sie sanieren, umbauen oder die Nutzung ändern, müssen Sie das Gutachten nachziehen. Selbst wenn das Haus aus den 1950er-Jahren stammt: Die heutigen Brandschutzregeln gelten für alle. Die Bauaufsicht prüft nicht mehr nur die Baupläne - sie verlangt einen schriftlichen Nachweis, dass alles, was brennen könnte, kontrolliert wurde.

Was genau wird im Brandschutzgutachten geprüft?

Es ist kein allgemeiner Check. Es ist eine detaillierte, technische Analyse von mehr als 20 Bauteilen und Systemen. Der Sachverständige schaut sich an:

  • Welche Feuerwiderstandsklassen haben die tragenden Wände und Decken? (R30, R60, R90)
  • Wie dick sind die Ziegelwände zwischen den Wohnungen? (Mindestens 115 mm für R90)
  • Wie breit sind die Flure? (Mindestens 1,00 Meter - kein Einbau von Schuhschränken oder Regalen erlaubt)
  • Wie schnell können Bewohner raus? (Maximal 35 Meter bis zum nächsten Treppenhaus)
  • Welche Türen sind feuerhemmend? (F30 für Wohnungstüren, F90 für Treppenhaus-Eingänge)
  • Wie funktioniert die Rauchableitung? (Nach DIN 18232-2:2019-03 verpflichtend!)
  • Welche Materialien wurden verbaut? (Holz, Kunststoffe, Dämmstoffe - alle müssen klassifiziert sein)

Ein Beispiel: In einem Gebäude aus den 1970ern wurde der Flur mit einem Schuhschrank verengt. Der Sachverständige stellt das fest - und sagt: „Kein Gutachten, bis der Schrank raus ist.“ Keine Ausnahme. Keine Nachsicht. Denn in einem Brand braucht jemand mit eingeschränkter Mobilität 90 Sekunden, um 80 Zentimeter zu gehen. Wenn der Flur nur 90 cm breit ist, stirbt er.

Die Gebäudeklassen - der Schlüssel zu allem

Die ganze Prüfung hängt von einer einzigen Zahl ab: der Gebäudeklasse. Die wird nicht willkürlich festgelegt. Sie ergibt sich aus Höhe, Fläche und Anzahl der Wohnungen.

  • GKL 3: Mehr als zwei Wohnungen, bis zu 7 Meter hoch, mehr als 400 m² Nutzfläche. Hier müssen tragende Bauteile im Keller feuerbeständig (R90) sein. Trennwände zwischen Wohnungen: mindestens F30.
  • GKL 4: Mehr als zwei Geschosse, 7 bis 13 Meter hoch. Jetzt wird’s ernst: Alle tragenden Wände müssen R90 halten, Treppenhäuser brauchen Rauchableitung, Flure müssen 1,00 Meter breit sein.
  • GKL 5: Ab 13 Metern Höhe. Hier kommen noch mehr Anforderungen: automatische Brandmeldeanlagen, spezielle Fluchtwegkonzepte, manchmal sogar Sprinkleranlagen.

Ein Fehler, den viele machen: Sie denken, „wir haben nur drei Wohnungen, das ist doch kein Hochhaus“. Aber die Bauordnung zählt nicht die Anzahl der Menschen - sie zählt die Anzahl der Wohneinheiten und die Höhe. Drei Wohnungen über drei Etagen? Das ist GKL 4. Punkt.

Technische Schnittansicht eines Gebäudes der Gebäudeklasse GKL 4 mit feuerbeständigen Bauteilen und Rauchableitung.

Was passiert, wenn Sie das Gutachten nicht haben?

Die Bauaufsicht sagt: „Kein Bezug.“ Kein Schlüssel. Kein Strom. Kein Wasser. Sie dürfen das Gebäude nicht bewohnen - auch nicht, wenn es „schon immer so war“. Die Behörde hat keine Gnade. Und wenn Sie trotzdem bewohnen? Dann droht ein Bußgeld von bis zu 50.000 Euro - und im Ernstfall Haftung für Verletzte oder Tote.

Und wenn Sie verkaufen? Der Käufer wird ein Gutachten verlangen. Ohne es: kein Notarvertrag. Kein Kredit. Kein Verkauf. Das Haus bleibt liegen. Und in der Zwischenzeit sinkt der Wert. Denn ein Haus ohne Brandschutzgutachten ist ein unsicheres Haus - und das ist ein Risiko, das niemand kaufen will.

Was kostet ein Brandschutzgutachten?

Es ist kein billiges Hobby. Aber es ist kein Luxus. Es ist Versicherung - für Menschenleben und für Ihren Immobilienwert.

Ein Gutachten für ein Gebäude der GKL 3 kostet zwischen 1.200 und 2.000 Euro. Für GKL 4 liegt der Preis zwischen 2.500 und 4.000 Euro. Warum so viel? Weil der Sachverständige mindestens 15 bis 40 Stunden vor Ort arbeitet: Er misst, fotografiert, prüft Baupläne, prüft Materialzertifikate, rechnet Fluchtwegzeiten, dokumentiert alles. Und er unterschreibt mit seinem Namen - und damit mit seiner Berufshaftpflichtversicherung.

Einige Vermieter versuchen, das zu sparen - mit Online-Vorlagen oder „Gutachten“ von Handwerkern. Das ist gefährlich. Ein Gutachten muss von einem staatlich anerkannten Sachverständigen erstellt werden. Wer das nicht ist, hat keine Berechtigung. Und sein Papier ist wertlos - und kann Sie ins Gefängnis bringen, wenn etwas passiert.

Digitaler BIM-Modellansicht eines Mehrfamilienhauses mit Echtzeit-Brandschutzdaten und Sachverständigem.

Die größten Fehler bei Sanierungen

Die meisten Probleme entstehen nicht beim Neubau - sondern bei Sanierungen. Altbauten haben schmale Flure, alte Türen, Holzböden, Kaminanlagen. Und die Leute denken: „Wir bauen nur um, das ist doch nur eine kleine Änderung.“

Das ist falsch. Jede Änderung kann den Brandschutz zerstören. Ein typischer Fall: In einem Berliner Altbau aus 1920 wurde ein neuer Schrank eingebaut - 15 cm tief - in den Flur. Die Breite sank von 1,10 m auf 95 cm. Der Sachverständige lehnte das Gutachten ab. 37 % aller Sanierungs-Gutachten in Berlin wurden 2022 genau wegen solcher Flurverengungen abgelehnt.

Andere Fehler: Holzschuhschränke im Treppenhaus (verboten!), Kunststoffkinderwagen im Flur (verboten!), fehlende Rauchmelder (verboten!), Türen ohne Brandprüfsiegel (verboten!), Rauchableitung vergessen (verboten!).

Lösungen gibt es. Ein Beispiel: In Hamburg wurde ein historisches Gebäude mit schmalen Fluren so saniert, dass rauchdichte Schiebetüren installiert wurden - sie fahren bei Nichtgebrauch in die Wand ein und halten den Flur frei. Nur so war das Gutachten möglich. Kreativität zählt - aber nur, wenn sie den Vorschriften entspricht.

Was kommt als Nächstes?

Die Regeln werden nicht einfacher - sie werden komplexer. Ab 2025 muss jedes Gebäude mit mehr als 50 Nutzern ein Brandschutzmanagementsystem nach DIN SPEC 1501-1 haben. Das bedeutet: Das Gutachten ist nicht mehr ein einmaliges Dokument. Es muss jährlich überprüft, aktualisiert und dokumentiert werden - wie ein Fahrzeughauptuntersuchung.

Und ab 2026 werden alle Brandschutzgutachten digital in BIM-Modellen gespeichert. Kein Papier mehr. Keine verlorenen Unterlagen. Alles online - für die Feuerwehr, für die Behörde, für den neuen Mieter.

Und dann kommen noch Photovoltaikanlagen und E-Ladestationen. Bislang wurden die in den Gutachten oft ignoriert. Ab 2025/2026 müssen sie explizit geprüft werden - weil sie Brandrisiken bergen: Überhitzte Batterien, falsche Kabel, unzureichende Absicherung.

Die EU-Bau-Produkteverordnung (BauPVO) ab 2026 wird die Brandverhalten von Materialien noch strenger klassifizieren. Das bedeutet: Alte Zertifikate werden ungültig. Neue Materialien müssen nach neuen Regeln getestet werden. Wer heute spart, zahlt morgen doppelt.

Was tun, wenn Sie ein Mehrfamilienhaus haben?

  • Schritt 1: Prüfen Sie die Gebäudeklasse. Höhenmessung, Anzahl der Wohnungen, Gesamtfläche. Wenn Sie unsicher sind: Fragen Sie einen Sachverständigen - nicht den Bauunternehmer.
  • Schritt 2: Suchen Sie einen staatlich anerkannten Brandschutzsachverständigen. Die Liste finden Sie bei Ihrer Landesbauordnung - oder beim Bundesverband der Sachverständigen und Fachgutachter (BVSK).
  • Schritt 3: Machen Sie eine Inventur: Welche Türen haben ein Feuerwiderstandssiegel? Wo sind Flure verengt? Gibt es Holzschränke im Treppenhaus? Machen Sie Fotos. Notieren Sie alles.
  • Schritt 4: Lassen Sie das Gutachten erstellen. Akzeptieren Sie keine „Vorab-Prüfungen“ von Handwerkern. Nur ein anerkannter Sachverständiger zählt.
  • Schritt 5: Halten Sie das Gutachten bereit - für die Behörde, für Mieter, für Versicherer. Und aktualisieren Sie es jedes Jahr.

Ein Brandschutzgutachten ist kein Hindernis. Es ist Ihr Schutzschild. Es sagt: „Hier ist alles in Ordnung.“ Und das ist der einzige Grund, warum Sie morgen morgens aufstehen und wissen: Niemand in diesem Haus wird sterben, weil jemand die Regeln ignoriert hat.